Willkommen auf meinem Blog über mein Freiwilligenjahr in Minsk, Belarus!

Samstag, 26. November 2011

Ein letztes Mal...

Seit zwei Monaten bin ich jetzt endgültig wieder in Deutschland. Richtig angekommen fühle ich mich noch immer nicht. Seitdem ich da bin hatte ich auch den Vorsatz diesen Blog endlich "richtig" abzuschließen und genau das mach ich dann jetzt mal ;)

Da seit dem letzten Eintrag viel zu viel passiert ist, will ich gar nicht mehr so genau darauf eingehen. Der Abschied war schwer, das Ankommen in Deutschland aber auch.
Anfang November hatten wir ASF- Rückkehrerseminar in Bielefeld,  in dem Schreibwerkstatt- Workshop ist dann der folgende Text entstanden, den ich als Abschluss für dieses Jahr hier noch veröffentlichen will. Danach schließe ich das ganze hier und es geht los zu neuen Aufgaben... und sicher immer wieder nach Minsk!



Weißrussland? Was willst du denn da? Da ist es doch kalt! Und außerdem ist es da grau und langweilig mit lauter Plattenbauten!

Stimmt nicht, oder nur teilweise! Plattenbauten, klar die gibt’s und wenn du die sowjetische Architektur nicht magst, wird es dir wohl auch schwerfallen Minsk zu mögen, aber vielleicht musst du einfach mal um die Ecke schauen. Außerdem geh mal auf den Markt, Plastikblumen in allen erdenklichen Farben sind nicht grau und meine Platte hab ich auch lieb gewonnen!


Weißrussland? Was willst du denn da? Da ist es doch kalt! Und hast du keine Angst so alleine?

Klar hab ich manchmal Angst, aber hindert die mich am losfahren? Und alleine? Ich dachte, ich fahre in ein Land in dem noch 9 Millionen anderer Menschen leben.


Was willst du denn da? Da ist es doch kalt – in Russland. So weit weg!

Russland? Also ich habe die Grenze nach Russland im letzten Jahr nicht übertreten, wenn schon war ich in Weißrussland, aber doch eher in Belarus. Und weit weg? Es ist näher als England und liegt auch nicht bei Kasachstan oder da irgendwo im Osten. Du musst nur den Zug nehmen, einmal durch Polen und schon bist du da!


Weißrussland? Was willst du denn da? Da ist es doch kalt, das ist doch die letzte Diktatur Europas und da gab es doch den Sozialismus!

Also ich dachte den gab‘s hier auch. Oder war das auch nur irgendwo da drüben, im Osten? Kennst du überhaupt die wirklichen Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie? Hast du alle Rechte die eine Demokratie dir geben sollte? Bist du dir ihnen überhaupt bewusst? Oder solltest du vielleicht auch mal ihre Abwesenheit spüren um ihre Abwesenheit wahrnehmen zu können?


Weißrussland? Was wolltest du denn da? War es da nicht kalt? Jetzt erzähl doch endlich, was hast du da erlebt?

Was ich erlebt habe? Gute Tage, schlechte Tage, langweilige Tage, aufregende Tage, gar keine Tage sondern Nächte, Winternächte, Sommernächte, die Wahlnacht, betrunkene Nächte, aber auch Tage, schöne Stunden, anstrengende Stunden, aufgeregte Stunden, kalte Stunden, warme Stunden, viele Stunden mit Arbeit, ermüdender Arbeit, scheinbar sinnloser Arbeit, toller Arbeit, teetrinkender Arbeit, gar keiner Arbeit, Freizeit, Reisen, Ankommen, Wegfahren… Hast du denn ein Jahr Zeit zum Zuhören?


Und war es denn nun kalt?

Naja ich weiß ja nicht, wie es in Deutschland war, aber wir hatten einen Sommer!





Ach ja und:
Ich liebe das Leben!

Sonntag, 21. August 2011

Novogrudok, Mir und Neswich

Letztes Wochenende bin ich mit Marina, einer Freundin dann noch einmal rausgefahren aus Minsk zuerst nach Novogrudok, dann nach einer Nacht im Zelt am nächsten Morgen weiter nach Mir und von dort nach Neswich.

Blick über Novogrudok

Burgruine Novogrudok

Novogrudok

Schloss in Mir

Im Schlosspark

Schloss in Neswich

Schloss in Neswich

Rathaus in Neswich

Und jetzt beginnt meine letzte Woche in Minsk. Die Gedanken an den Abschied versuche ich zu verdrängen, auch zum Packen kann ich mich nicht motivieren, Deutschland scheint so weit weg, unvorstellbar, dort in 1 1/2 Wochen wieder zu sein. Mein Vorsatz für die nächsten Tage ist jetzt alles noch einmal ganz intensiv zu genießen, so schwer der Abschied auch fallen wird!

Ein zweites Mal auf Kinderlager

Kaum war ich vom Rasnie- Ravnie Lager wieder zuhause, wurde ich schon gefragt, ob ich nicht noch einmal mit auf ein Kinderlager fahren wollte. Das Heim in Novinki hat dieses Jahr zum ersten Mal selbst Ferienlager, finanziert durch ein großes Spendenkonzert im Mai, organisiert. Im Unterschied zu dem von uns organisierten Lager sollten auf diese Lager die fitteren und aktiveren Kinder mitfahren. Am Anfang fuhren auch noch Freiwillige mit, bei dem dritten Lager hatten sie dann allerdings keine Freiwilligen mehr und deshalb wurde cih gefragt, ob ich mit Lena von meiner Station, die im Rollstuhl sitzt mitfahre könnte. Am Tag, an dem wir abfuhren erfuhr ich dann, dass ich nicht nur Lena, sondern auch Artur noch mitnehmen sollte.
Die Zeit auf dem Lager war sehr schön, allerdings mit zwei Kindern auch etwas anstrengend. Schön war, dass auf dem Lager viele der älteren Jungs und Mädels mitwaren und so die Gruppe viel aktiver war, als auf unserem Lager. 

Hier noch ein paar Eindrücke:










Das Sommerlager von Rasnie- Ravnie

Круглое озера - runder See, so lautet der Name des Lagers zu dem sich seit einigen Jahren junge Erwachsene - mit körperlichen Behinderungen und ohne - für fast drei Wochen im belarussischen Wald aufmachen und dieses Jahr war ich auch mit dabei. 
Die ersten 5 Tage bauten wir mit elf Freiwilligen erst einmal alles auf, was man zu so einem Lager braucht: Zelte, große Armeezelte, die Küche, die Kantine, eine Toilette, eine Dusche und sogar eine Banja, alles natürlich rollstuhlgerecht. 
Nach diesen Aufbautagen kamen am 6. Tag über dreißig Teilnehmer und auf einmal war die Stille in unserem Wald zu Ende und das eigentliche Seminarprogramm begann. Aufgeteilt war es in drei Teile, "Ich und ich", "Ich und andere" und "Ich und die Gesellschaft". Zu jedem Teil gab es Rollenspiele, Diskussionen und Workshops. Menschen mit Behinderungen leben in Belarus immer noch am Rande der Gesellschaft und obwohl ein Teil der Teilnehmer studiert hat, arbeiten nur sehr wenige, die meisten sitzen zuhause. Darauf diese zu fordern, zielt der Grundgedanke des Lagers: sie sollen aktiver werden, sich selbst versuchen einzubringen und nicht in ihrer von der Gesellschaft gegebenen Position verharren. Oft war es schwierig überhaupt eine Diskussion entstehen zu lassen, viele der Teilnehmer sind es nicht gewöhnt, überhaupt ihre Meinung zu formulieren. 
Zu dem Seminarprogramm kommt auch, dass Leben im Wald auch nicht immer einfach ist, aber trotz allen Schwierigkeiten waren wir eine tolle Gruppe und als es nach elf Tagen für die Teilnehmer wieder nach Hause ging, hätten viele gerne auf den Luxus von warmem, fließenden Wasser, Elektrizität oder anderen Entbehrlichkeiten verzichtet, nur um noch länger am See bleiben zu können. 


Für uns Freiwillige ging mit der Abreise der Teilnehmer dann das Abbauen des Lagers los, das dauerte jedoch nur noch einen Tag und am nächsten Abend waren wir auch wieder in Minsk. Zuerst einmal war es da aber viel zu laut, zu viele Menschen, die Wohnung wirkte nach drei Wochen Armeezelt, dass fast so groß war wie unsere ganze Wohnung auch viel zu klein und nachdem ich zum ersten Mal wieder Nachrichten las, wünschte ich mich ernsthaft zurück in "unseren" Wald!

Sonntag, 31. Juli 2011

Das Kinderlager in Nadezhda

Nach fast einem Monat auf unseren beiden Sommerlagern bin ich seit Mittwochabend wieder in Minsk. 

Das erste der beiden Lager war das Kinderlager für Kinder des Kinderheims in Novinki des Vereins Kanikuli im Sanatorium in Nadezhda. Für sechs Tage wohnten wir dort in fünf kleinen Häuschen, wir das waren: drei Pädagogen, neun Freiwillige und zwölf Kinder. Jeder betreute ein Kind, mit dem er dann für die Zeit des Lagers auch in einem Zimmer schlief und es rund um die Uhr 1:1 betreute.
Wir nahmen zwei Kinder von der Mädchenstation, drei von der Jungsstation und sieben von meiner Station, der Kleinkinderstation mit. Leider war das Wetter nicht so gut wie erhofft, trotzdem hatten wir ein abwechslungsreiches Programm, wir bastelten mit Ton, malten Namensschilder und einen großen Elefanten, buken Stockbrot, waren viel draußen auf dem Spielplatz, machten einmal Aromatherapie und die Kinder bekamen zweimal Massagen. Das meiner Meinung nach allerwichtigste war jedoch, dass jedes Kind einen Freiwilligen hatte, der die ganze Zeit mit ihm verbrachte und der nur für ihn da war. Bei einigen Kindern merkte man dadurch wie sie aufblühten: Dascha, die ich im Heim bis jetzt nur sehr selten lachen gesehn habe, lachte viel und war entspannt; Igor, der im Heim oft sehr schwierig und überdreht ist, war mit Hannah total glücklich. Doch der für mich wichtigste war Pascha. Ich hatte mich die letzten Monate sehr dafür eingesetzt ihn ins Lager mitnehmen zu können. Im Heim wird er leider von vielen übersehen und bekommt kaum Aufmerksamkeit, die letzten Monate habe ich mit ihm immer Laufen geübt und es auch geschafft eine gute Beziehung zu ihm aufzubauen. Normalerweise lacht er so gut wie nie und schaut auch einem nicht in die Augen oder sucht Augenkontakt. Außerdem ist er wohl taub und bewegt sich von sich auch normalerweise nicht. Er nuckelt auch viel am Daumen oder steckt sich gerne die ganze Hand in den Mund und schluckt seine Spucke nicht, sodass er oft nasse Kleidung hat und von den Sanitarki die Hände mit einer Strumpfhose oder einem Tuch zu einer Art Zwangsjacke gebunden bekommt. Nach einiger Zeit wusste er dann schon, dass wir, wenn ich da bin zusammen laufen, dann kam er mir entgegengekrabbelt und lief auch immer sicherer, sogar so gut, dass er vor zwei Monaten ungefähr anfing ohne meine Hand zu laufen. Sein Lieblingsspiel ist es immernoch, dass ich seine Hand loslasse wenn er steht und dann zwei Schritte vorgehe, mich hinkniee und ihn dann zu mir rufe. Dann kommt er mit kleinen Schrittchen zu mir gelaufen und kuschelt sich dann an mich an und lässt sich gegen mich fallen. 
Auf dem Kinderlager wirkte er einfach total glücklich, nach einem Tag ließ er meine Hand gar nicht mehr los und suchte sie auch immer, wenn ich in der Nähe war und hielt sie fest. Wir drehten unsere Runden auf dem Gelände von Nadezhda und er lief immer besser und sicherer. Dadurch, dass wir auch gleich morgens zum Frühstück liefen und er nicht wie im Heim oft nur rumsaß oder rumlag, war er viel aktiver und aufmerksamer. Er beobachtete viel mehr seine Umgebung und "erzählte" vor allem dann wenn er Schlafen sollte Geschichten. Schlafen wollte er überhaupt nicht und setzte sich dann solange immer wieder auf, bis ich mich mit ihm hinlegte und wartete bis er eingeschlafen war.


Igor

Jascha

Dima, Kay, Vadim und Denis

Dascha

Igor und Lena belegen die Torte

Pascha

Hannah und Denis auf der Rutsche

Pascha

Kay und Dima

Dima auf der Rutsche

Hannah und Igor


Schwierigster Moment des Lagers war es dann nach sechs Tagen wieder auf Wiedersehen bis zum nächsten Jahr zu sagen. Und vorgestern, an meinem ersten Tag in Novinki wurde ich dann als erstes gefragt:


"Johanna - fahren wir nächstes Jahr wieder aufs Lager?"



Mittwoch, 22. Juni 2011

70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

Heute jährt sich der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion zum 70. Mal. Mit diesem Überfall beginnt für Belarus die, bis Sommer 1944 dauernde Okkupationszeit, in der jeder vierte Bewohner starb, darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Außerdem begann die Deportation von Belarussen zur Zwangsarbeit nach Deutschland und die Errichtung mehrerer Ghettos und Lager. Für viele Menschen steht dieses Datum für einen großen Einschnitt und das Ändern ihres kompletten bisherigen Lebens.

Mahnwache am Siegesplatz


Ich habe heute wie immer Mittwochs Esther besucht und natürlich war die Bedeutung dieses Tages heute das Hauptthema unseres Gesprächs. Für sie bedeutet der 22. Juni 1941 und mit ihm der Beginn des Krieges das Ende ihrer unbeschwerten Kindheit und Jugend. Sie studierte zu dem Zeitpunkt in Minsk und konnte noch als eine der letzten vor der anrückenden Wehrmacht zu ihrer Familie nach Saratowa flüchten. Ihr Verlobter starb in den ersten Kriegstagen in Kiew. Da war sie 19 Jahre alt, ein wenig jünger als ich jetzt bin. Für mich wäre es unvorstellbar, so etwas zu erleben. 


Ich habe letztes Mal schon den von mir geschriebenen Artikel, der in der ASF Zeitschrift Zeichen erschien hier verlinkt. Der Artikel entstand, weil wir für unser Seminar ein Zeitzeugeninterview zu eben diesem 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion machen sollten. Da ich den Zeichen - Artikel kürzen musste, möchte ich hier nochmal den original Artikel einfügen:

„Als der Krieg anfing war ich zehn Jahre alt.“
Mit diesem Satz beginnen wir unser Gespräch, gemütlich auf einem Sofa in einem schönen Minsker Wohnzimmer bei Tee und Gebäck. Dorthin gekommen war ich, weil ich mit ihr, Diana Aleksandrowna, ein Interview machen wollte, denn das war die Aufgabe für unser Seminar, ein Zeitzeugeninterview zum Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion am 22.Juni 1941. Doch bevor wir darüber reden, frage ich sie nach ihrer Kindheit und sie bringt ein Fotoalbum: Mit einem Lächeln sagt sie: „Siehst du, das Baby da, das bin ich.“ Wir schauen weiter, die Kindheit, in einem Dorf umgeben von Wald und Moor. Heute liegt es in Russland, nicht weit von der Grenze zu Belarus. Die Eltern waren beide Lehrer, sie wohnten in einem nach der Revolution in Russland leer stehenden Gutshaus, dort war auch die Schule. Wieder steht sie auf, nimmt ein Buch aus dem Regal „Kennst du den noch? Wilhelm Busch?“ Als ich bejahe und erzähle, dass ich das Buch als Kind gelesen habe, freut sie sich. Sie hat es als Kind auch gelesen, gefunden im Bücherschrank des Gutsherrn in einer abgelegenen Ecke des Hauses. In der Schule habe sie anderes gelernt, immer konform mit der politischen Ideologie, aber was sie dort auch gelernt habe, war, dass die Deutschen ihre Freunde sind, zwischen Hitler und Stalin gab es ja einen Nichtangriffspakt. Verstehen, warum der Krieg dann begann, konnte sie nicht, zuerst habe das auch niemand geglaubt, es für einen Fehler, einen Irrtum gehalten. Sie erzählt, sie habe gedacht, wenn die Deutschen erst mal hier sind und sehen wie sie hier leben, ihre Freunde, dann werden sie schon wieder zurück gehen und alles wird sich aufklären. Daran habe sie fest geglaubt, bis die ersten Bomben fielen.

Das Gebiet des heutigen Belarus war nach dem Sieg der polnischen Armee aufgeteilt zwischen Polen und Sowjetrussland. Der Ostteil war als „Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik“ eines der Gründungsmitglieder der Sowjetunion. 1939 besetzten sowjetische Truppen den polnischen Teil und gliederten ihn an. Nach dem Überfall auf Polen verlief die Frontlinie ungefähr an der heutigen Grenze zwischen Polen und Belarus. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war innerhalb von weniger als drei Wochen fast das komplette heutige Belarus eingenommen und die Besatzungszeit, in der jeder vierte Weißrusse starb, begann.

Trotzdem hätten sie vom eigentlichen Krieg zuerst wenig mitbekommen, das Dorf war von der Außenwelt abgeschlossen durch das Moor und den Wald. Die deutschen Soldaten waren vorbeigezogen, weiter in Richtung Smolensk. Im Dorf wurden auch keine Soldaten stationiert und keine Polizei. Im Herbst 1941kamen dann die Widerstandskämpfer, die Partisanen. Denen haben sie geholfen, ihre Uniformen gegen Zivilkleidung getauscht, ihnen Essen gegeben, später auch Waffen. Bis dann im Februar 1942 ihr Dorf von deutschen Soldaten niedergebrannt und die Bewohner in ein Haus gesperrt wurden, draußen standen Soldaten mit Fackeln, alle ahnten was mit ihnen passieren sollte. Auf einmal lächelt sie und sagt, „dann kam ein Wunder, ein wirkliches Wunder.“ Ein Auto fuhr vor, ein Offizier steigt aus und befiehlt die Eingesperrten nicht zu verbrennen, sondern sie gefangen zu nehmen. So kam sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in ein Arbeitslager.

Sie unterbricht, nein, weiter wolle sie jetzt nicht mehr erzählen. Wir machen eine Pause, ihr Enkel kommt vorbei, wir trinken Tee. Sie kann jetzt mit mir über das Reden, was sie eigentlich beschäftigt, fragt, welche Bücher wir in der Schule gelesen haben, sie selbst spricht, auch wenn sie es nie zugeben würde, sehr gut Deutsch und liest auch viel auf Deutsch.
Später gehen wir wieder in das Wohnzimmer, sie hat sich daran erinnert, dass ich eigentlich mit zwei Zetteln voll Fragen ankam, sie dann aber frei erzählt hat und will wissen, welche Fragen denn noch so auf meinen Zetteln stehen. Ich bitte sie, mir noch von ihrem Leben nach dem Krieg zu erzählen. Sie beginnt damit, wie sie ihren Vater wiedergetroffen hat. Dann erzählt sie von der Freude in den Jahren nach dem Krieg, so viele Sachen hätte sie wiederentdeckt, ein richtiges Bett zu haben, eigene schöne Kleider, wieder in die Schule gehen zu können. Das Wissen, morgen nicht hungern zu müssen und zu leben.


Heute nachmittag war ich dann auch noch auf einer Theateraufführung an dem Denkmal von Leonid Lewin auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof in Minsk (direkt neben der Geschichtswerkstatt). Die Teilnehmer hatten schon vor zwei Wochen eine Art experimentelles Theater zum Holocaust in der Geschichtswerkstatt aufgeführt, alle, bis auf die Leiterin sind noch Studenten und haben sich durch die Geschichtswerkstatt mit dem Thema beschäftigt. 

Ansonsten noch etwas zur jetzigen politischen Lage. Die Stimmung wird immer angespannter. Es gibt immer mehr Demonstrationen, heute, sowie die letzten beiden Mittwochabende gab es Demonstrationen in Minsk, sowie in vielen anderen Städten. Die Demonstrationen sind vor allem friedliche Zusammentreffen vieler Leute, jede Woche gibt es schon ein paar mehr Teilnehmer. Aber die Regierung hat eben genau vor diesen friedlichen Treffen scheinbar Angst. Nachdem sie am 8. Juli anscheinend von den Teilnehmern überrascht wurden und diese noch auf den Oktjabrskaja konnten, wurde am 15. dieser schon für eine angebliche Probe für die Parade am Unabhängigkeitstag am 3. Juli komplett abgeriegelt, sowie auch alle umliegenden Plätze. (Fotos) Außerdem wurde offiziell wieder an das ja schon länger bestehende Versammlungsverbot für die komplette Innenstadt erinnert. Heute wurde alles rund um den Oktjabrskaja wieder abgeriegelt, diesmal mit der Begründung, dass beim Minsker Rathaus eine Veranstaltung zum Gedenken des Überfalls auf die SU stattfindet.
Letzten Freitag hat der Präsident außerdem eine Pressekonferenz gegeben, auf der er auch mal wieder gut mit allen abrechnete: er erklärte, warum er den Benzinpreis jetzt wieder sanktionieren lässt, warum das Internet ein Feind ist und dass es in seinem Staat so etwas wie in Ägypten nicht geben wird, außerdem charakterisierte er den durchschnittlichen Teilnehmer der Demonstrationen als einen 17 jährigen, der in der einen Hand seine Zigarette und an der anderen seine Freundin halten würde und ja vom Leben noch nichts gesehn hätte.

„Die Diktatur schürt eine permanente Paranoia und macht den Menschen auf allen möglichen Ebenen bewusst Angst. Das ist ähnlich wie in der DDR. Im heutigen Belarus muss keiner umgebracht werden. Denn letzten Endes töten sich alle selbst. Alle haben in sich den Wunsch erstickt, sich frei zu äußern, zu sagen, was sie denken und zu tun, was ein Freigeist tun will. Der Tod ist nichts, wenn du Gefahr läufst, deinen Arbeitsplatz zu verlieren und damit die Zukunft, die Zukunft deiner Kinder, die von deinem Einkommen abhängt. Dies macht die Diktatur in Belarus aus – sie ist eine Diktatur von neuer Qualität, eine De – facto Diktatur, in der der Diktator selbst nicht das Zentrum der Macht ist, sondern jeder Bürger, jedes Individuum, das sich selbst verbietet, auf Demonstrationen zu gehen oder einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben. Paranoia kann eine Volkskrankheit sein und gleichzeitig – eine nationale Idee.“ (Zitat Viktor Martynowich)

Dass die Menschen wieder auf die Straße gehen zeigt, aber dass sie wieder anfangen Hoffnung zu spüren und dass sie sich nicht mehr mit der momentanen, vor allem wirtschaftlich schlechten, Situation zufriedengeben. Ich glaube, die Menschen fangen an, ihre Paranoia, wie es in dem Zitat genannt wird zu überwinden. Wie es weitergehen wird bleibt abzuwarten. Ich hoffe nur, dass es nicht bald von seiten des Staates wieder einen Vorwand geben wird brutal gegen die Demonstranten vorzugehen.




Den Eintrag über unseren Besuch in Brest vorletztes Wochenende gibt es die Tage. Momentan haben wir in Novinki gerade Besuch von acht richtig tollen englischen Freiwilligen, mit denen wir heute einfach mal das Klassenzimmer übernommen haben und dort mit Wasserfarben einen Riesenspaß haben. Daher freue ich mich auch schon auf morgen, ansonsten laufen die Vorbereitungen für unser Sommerlager auf Hochtouren. 


Пока, пока!

Mittwoch, 15. Juni 2011

Die ASF Studienreise

Ende Mai bekamen wir Besuch aus Deutschland. Wie jedes Jahr organisierte Werner Falk, ein sehr aktives Mitglied bei ASF einen Studienreise nach Belarus mit Stationen in Minsk und Gomel. Das Programm bestand weniger aus touristischen Unternehmungen, da alles Teilnehmer nicht zum ersten Mal in Belarus waren, sondern mehr aus Besuchen geschichtlicher Orte und Gesprächen. Netterweise durften Hannah und ich auch am Programm teilnehmen, was für uns eine gute Möglichkeit war, eben auch solche Orte, die wir noch nicht gesehen haben und interessante Menschen zu treffen. Dazu gehörten unter anderem die Witwe des weißrussischen Schriftstellers Wasil Bikau, einen Professor Lepin, der nach 1986 in Tschernobyl lebte und mehrere Bücher über die Folgen der Atomkraft geschrieben hat und den deutschen Botschafter in Minsk, Christof Weil.

Das Vernichtungslager Maly Trostenez:
In dem Dorf Maly Trostenez nicht weit von Minsk wurden während der Zeit der Okupation auf einer ehemaligen Kolchose Häftlinge (die Zahlen schwanken zwischen 500 und 100, nach der Auflösung des Minsker Ghettos 200) dazu gezwungen, dort für den KdS (Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD) und die Ordnungspolizei des Minsker Ghettos zu arbeiten. 


Mit der Zeit wurden immer mehr Juden, aus Belarus, Polen, aber auch aus Deutschland, nach Maly Trostenez deportiert und dort ermordet, genaue Zahlen sind schwer zu nennen, man geht von ungefähr 60.000 Menschen aus. Die Zahl von 206.000 die man auf diesem Foto sieht, bezieht auch alle sowjetischen Kriegsgefangenen, die in und um Minsk in Kriegsgefangenenlagern lebten, mit ein.




Kurapaty:
Im Wald von Kurapaty wurden in der Zeit von 1937 bis 1941 zehntausende Menschen, die durch Stalins Säuberungen erschossen wurden, vergraben. Ende der 1980er Jahre wurden dort die Massengräber entdeckt und es kam raus, dass die Toten keine Opfer der Nazis waren, sondern von der Geheimpolizei NKWD erschossen wurden. Diese Entdeckungen gaben der Bewegung für die Eigenstänidkeit Weißrusslands in der Perestroika Aufschwung. Damals wurde auch begonnen, dort Kreuze zu errichten, um der Opfer zu gedenken. Doch die jetzige Staatsführung versucht diesen Gedenkort verschwinden zu lassen. Durch den Wald führt schon jetzt eine Umgehungsstraße, für deren Bau schon 2001 viele Kreuze entfernt wurden. Allerdings gab es damals mehrer Male einen starken Widerstand, sodass die Regierung jetzt dazu übergegangen ist, den Abbau langsam voranzutreiben.