Heute jährt sich der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion zum 70. Mal. Mit diesem Überfall beginnt für Belarus die, bis Sommer 1944 dauernde Okkupationszeit, in der jeder vierte Bewohner starb, darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Außerdem begann die Deportation von Belarussen zur Zwangsarbeit nach Deutschland und die Errichtung mehrerer Ghettos und Lager. Für viele Menschen steht dieses Datum für einen großen Einschnitt und das Ändern ihres kompletten bisherigen Lebens.
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Mahnwache am Siegesplatz |
Ich habe heute wie immer Mittwochs Esther besucht und natürlich war die Bedeutung dieses Tages heute das Hauptthema unseres Gesprächs. Für sie bedeutet der 22. Juni 1941 und mit ihm der Beginn des Krieges das Ende ihrer unbeschwerten Kindheit und Jugend. Sie studierte zu dem Zeitpunkt in Minsk und konnte noch als eine der letzten vor der anrückenden Wehrmacht zu ihrer Familie nach Saratowa flüchten. Ihr Verlobter starb in den ersten Kriegstagen in Kiew. Da war sie 19 Jahre alt, ein wenig jünger als ich jetzt bin. Für mich wäre es unvorstellbar, so etwas zu erleben.
Ich habe letztes Mal schon den von mir geschriebenen Artikel, der in der ASF Zeitschrift Zeichen erschien hier verlinkt. Der Artikel entstand, weil wir für unser Seminar ein Zeitzeugeninterview zu eben diesem 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion machen sollten. Da ich den Zeichen - Artikel kürzen musste, möchte ich hier nochmal den original Artikel einfügen:
„Als der Krieg anfing war ich zehn Jahre alt.“
Mit diesem Satz beginnen wir unser Gespräch, gemütlich auf einem Sofa in einem schönen Minsker Wohnzimmer bei Tee und Gebäck. Dorthin gekommen war ich, weil ich mit ihr, Diana Aleksandrowna, ein Interview machen wollte, denn das war die Aufgabe für unser Seminar, ein Zeitzeugeninterview zum Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion am 22.Juni 1941. Doch bevor wir darüber reden, frage ich sie nach ihrer Kindheit und sie bringt ein Fotoalbum: Mit einem Lächeln sagt sie: „Siehst du, das Baby da, das bin ich.“ Wir schauen weiter, die Kindheit, in einem Dorf umgeben von Wald und Moor. Heute liegt es in Russland, nicht weit von der Grenze zu Belarus. Die Eltern waren beide Lehrer, sie wohnten in einem nach der Revolution in Russland leer stehenden Gutshaus, dort war auch die Schule. Wieder steht sie auf, nimmt ein Buch aus dem Regal „Kennst du den noch? Wilhelm Busch?“ Als ich bejahe und erzähle, dass ich das Buch als Kind gelesen habe, freut sie sich. Sie hat es als Kind auch gelesen, gefunden im Bücherschrank des Gutsherrn in einer abgelegenen Ecke des Hauses. In der Schule habe sie anderes gelernt, immer konform mit der politischen Ideologie, aber was sie dort auch gelernt habe, war, dass die Deutschen ihre Freunde sind, zwischen Hitler und Stalin gab es ja einen Nichtangriffspakt. Verstehen, warum der Krieg dann begann, konnte sie nicht, zuerst habe das auch niemand geglaubt, es für einen Fehler, einen Irrtum gehalten. Sie erzählt, sie habe gedacht, wenn die Deutschen erst mal hier sind und sehen wie sie hier leben, ihre Freunde, dann werden sie schon wieder zurück gehen und alles wird sich aufklären. Daran habe sie fest geglaubt, bis die ersten Bomben fielen.
Das Gebiet des heutigen Belarus war nach dem Sieg der polnischen Armee aufgeteilt zwischen Polen und Sowjetrussland. Der Ostteil war als „Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik“ eines der Gründungsmitglieder der Sowjetunion. 1939 besetzten sowjetische Truppen den polnischen Teil und gliederten ihn an. Nach dem Überfall auf Polen verlief die Frontlinie ungefähr an der heutigen Grenze zwischen Polen und Belarus. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war innerhalb von weniger als drei Wochen fast das komplette heutige Belarus eingenommen und die Besatzungszeit, in der jeder vierte Weißrusse starb, begann.
Trotzdem hätten sie vom eigentlichen Krieg zuerst wenig mitbekommen, das Dorf war von der Außenwelt abgeschlossen durch das Moor und den Wald. Die deutschen Soldaten waren vorbeigezogen, weiter in Richtung Smolensk. Im Dorf wurden auch keine Soldaten stationiert und keine Polizei. Im Herbst 1941kamen dann die Widerstandskämpfer, die Partisanen. Denen haben sie geholfen, ihre Uniformen gegen Zivilkleidung getauscht, ihnen Essen gegeben, später auch Waffen. Bis dann im Februar 1942 ihr Dorf von deutschen Soldaten niedergebrannt und die Bewohner in ein Haus gesperrt wurden, draußen standen Soldaten mit Fackeln, alle ahnten was mit ihnen passieren sollte. Auf einmal lächelt sie und sagt, „dann kam ein Wunder, ein wirkliches Wunder.“ Ein Auto fuhr vor, ein Offizier steigt aus und befiehlt die Eingesperrten nicht zu verbrennen, sondern sie gefangen zu nehmen. So kam sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in ein Arbeitslager.
Sie unterbricht, nein, weiter wolle sie jetzt nicht mehr erzählen. Wir machen eine Pause, ihr Enkel kommt vorbei, wir trinken Tee. Sie kann jetzt mit mir über das Reden, was sie eigentlich beschäftigt, fragt, welche Bücher wir in der Schule gelesen haben, sie selbst spricht, auch wenn sie es nie zugeben würde, sehr gut Deutsch und liest auch viel auf Deutsch.
Später gehen wir wieder in das Wohnzimmer, sie hat sich daran erinnert, dass ich eigentlich mit zwei Zetteln voll Fragen ankam, sie dann aber frei erzählt hat und will wissen, welche Fragen denn noch so auf meinen Zetteln stehen. Ich bitte sie, mir noch von ihrem Leben nach dem Krieg zu erzählen. Sie beginnt damit, wie sie ihren Vater wiedergetroffen hat. Dann erzählt sie von der Freude in den Jahren nach dem Krieg, so viele Sachen hätte sie wiederentdeckt, ein richtiges Bett zu haben, eigene schöne Kleider, wieder in die Schule gehen zu können. Das Wissen, morgen nicht hungern zu müssen und zu leben.
Heute nachmittag war ich dann auch noch auf einer Theateraufführung an dem Denkmal von Leonid Lewin auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof in Minsk (direkt neben der Geschichtswerkstatt). Die Teilnehmer hatten schon vor zwei Wochen eine Art experimentelles Theater zum Holocaust in der Geschichtswerkstatt aufgeführt, alle, bis auf die Leiterin sind noch Studenten und haben sich durch die Geschichtswerkstatt mit dem Thema beschäftigt.
Ansonsten noch etwas zur jetzigen politischen Lage. Die Stimmung wird immer angespannter. Es gibt immer mehr Demonstrationen, heute, sowie die letzten beiden Mittwochabende gab es Demonstrationen in Minsk, sowie in vielen anderen Städten. Die Demonstrationen sind vor allem friedliche Zusammentreffen vieler Leute, jede Woche gibt es schon ein paar mehr Teilnehmer. Aber die Regierung hat eben genau vor diesen friedlichen Treffen scheinbar Angst. Nachdem sie am 8. Juli anscheinend von den Teilnehmern überrascht wurden und diese noch auf den Oktjabrskaja konnten, wurde am 15. dieser schon für eine angebliche Probe für die Parade am Unabhängigkeitstag am 3. Juli komplett abgeriegelt, sowie auch alle umliegenden Plätze. (
Fotos) Außerdem wurde offiziell wieder an das ja schon länger bestehende Versammlungsverbot für die komplette Innenstadt erinnert. Heute wurde alles rund um den Oktjabrskaja wieder abgeriegelt, diesmal mit der Begründung, dass beim Minsker Rathaus eine Veranstaltung zum Gedenken des Überfalls auf die SU stattfindet.
Letzten Freitag hat der Präsident außerdem eine Pressekonferenz gegeben, auf der er auch mal wieder gut mit allen abrechnete: er erklärte, warum er den Benzinpreis jetzt wieder sanktionieren lässt, warum das Internet ein Feind ist und dass es in seinem Staat so etwas wie in Ägypten nicht geben wird, außerdem charakterisierte er den durchschnittlichen Teilnehmer der Demonstrationen als einen 17 jährigen, der in der einen Hand seine Zigarette und an der anderen seine Freundin halten würde und ja vom Leben noch nichts gesehn hätte.
„Die Diktatur schürt eine permanente Paranoia und macht den Menschen auf allen möglichen Ebenen bewusst Angst. Das ist ähnlich wie in der DDR. Im heutigen Belarus muss keiner umgebracht werden. Denn letzten Endes töten sich alle selbst. Alle haben in sich den Wunsch erstickt, sich frei zu äußern, zu sagen, was sie denken und zu tun, was ein Freigeist tun will. Der Tod ist nichts, wenn du Gefahr läufst, deinen Arbeitsplatz zu verlieren und damit die Zukunft, die Zukunft deiner Kinder, die von deinem Einkommen abhängt. Dies macht die Diktatur in Belarus aus – sie ist eine Diktatur von neuer Qualität, eine De – facto Diktatur, in der der Diktator selbst nicht das Zentrum der Macht ist, sondern jeder Bürger, jedes Individuum, das sich selbst verbietet, auf Demonstrationen zu gehen oder einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben. Paranoia kann eine Volkskrankheit sein und gleichzeitig – eine nationale Idee.“ (Zitat Viktor Martynowich)
Dass die Menschen wieder auf die Straße gehen zeigt, aber dass sie wieder anfangen Hoffnung zu spüren und dass sie sich nicht mehr mit der momentanen, vor allem wirtschaftlich schlechten, Situation zufriedengeben. Ich glaube, die Menschen fangen an, ihre Paranoia, wie es in dem Zitat genannt wird zu überwinden. Wie es weitergehen wird bleibt abzuwarten. Ich hoffe nur, dass es nicht bald von seiten des Staates wieder einen Vorwand geben wird brutal gegen die Demonstranten vorzugehen.
Den Eintrag über unseren Besuch in Brest vorletztes Wochenende gibt es die Tage. Momentan haben wir in Novinki gerade Besuch von acht richtig tollen englischen Freiwilligen, mit denen wir heute einfach mal das Klassenzimmer übernommen haben und dort mit Wasserfarben einen Riesenspaß haben. Daher freue ich mich auch schon auf morgen, ansonsten laufen die Vorbereitungen für unser Sommerlager auf Hochtouren.
Пока, пока!